Kein Dalles am „Dalles“

Samstag, 27. August 2022, 12:20 Uhr. Zwei bewaffnete Ordnungs-Polizistinnen „geleiten“ am Mörfelder Dalles (Rathausplatz) eine kleine alte Frau vom Platz. Die alte Frau weint. Viele kennen sie: Sie ist oft hier und verkauft die Obdachlosenzeitung „Straßenlicht“. Bisher hat das niemanden gestört. Diesmal aber schon. Die Ordnungspolizistinnen waren nicht zufällig am Platz, sondern wurden offenbar herbeigerufen. Wo liegt das Problem? fragen Passanten und Café-Besucher. Nun, die Zeitungsverkäuferin hat keine Erlaubnis, behaupten die Polizistinnen. Braucht sie denn eine? Gute Frage: Darüber sind sich auch Juristen nicht so ganz einig.

Undurchsichtige Rechtslage

Es ist jedenfalls schwierig, im Internet eine eindeutige Aussage dazu zu finden. Ist „Straßenverkauf im Umhergehen“ Gemeingebrauch oder Sondernutzung? Liegt etwa „Straßenhandel aus Bauchladen“ vor? Ist eine Sondererlaubnis oder gar ein Reisegewerbeschein nötig oder nicht? Fällt ein öffentlicher Platz abseits der Straße im Sinne des Hessischen Straßengesetzes überhaupt  unter „Straßen, Wege und Plätze, die dem öffentlichen Verkehr gewidmet sind“? Und was ist mit der Pressefreiheit? Die Polizistinnen ficht das alles nicht an – unerbittlich wird die alte Frau genötigt, sich zu „entfernen“. Passanten, die unbequeme Fragen stellen, bekommen es mit Einschüchterungsversuchen zu tun und werden nach ihrer Identität befragt. Eine Passantin, die den Polizistinnen noch eine der Zeitungen durch das Fenster des Polizeiwagens reichen will, wird mit einem rasanten Schnellstart stehen gelassen.

Arme Menschen werden gedemütigt, der Platz wird „sauber“ gehalten

Eine demütigende Situation für einen Menschen, der sich nicht verständlich machen, nicht gegen diese kaltschnäuzige bürokratische Haltung verteidigen kann. Ob die angebotene Zeitung „seriös“ ist, und wie viel vom Verkaufserlös tatsächlich obdachlosen Menschen, insbesondere der schutzlosen Verkäuferin des Blattes zugute kommt, ist eine völlig andere Frage. In der Tat sind die Blättchen „Streetworker“ und „Straßenlicht“ inhaltlich recht flach, und die Eigentumsverhältnisse der Herausgeber sind zwielichtig (was sich allerdings von „seriösen“ Zeitungen auch oft sagen ließe). Fakt ist und bleibt jedoch: Ein armer Mensch kann sich einen Rest von Würde bewahren. Er bettelt nicht, sondern er verkauft etwas. So wie die Blumenverkäufer, die sich allabendlich in Biergärten und Kneipen auf ähnliche Weise durchs Leben schlagen.

Der Anblick von Armut könnte ein Blick in die eigene Zukunft sein

Hier wäre doch mal eine sinnvolle Aufgabe: Darauf zu achten, dass solchen offensichtlich Bedürftigen geholfen wird, dass man sie vor ausbeuterischem Missbrauch schützt. Aber das interessiert die Ordnungshüterinnen nicht, dafür sind sie „nicht zuständig“. Ihr Auftrag ist es, einen öffentlichen Platz „sauber“ zu halten. Sie haben dafür zu sorgen, dass das Wochenendvergnügen derjenigen, denen es (noch) gut geht, und die es sich (noch) leisten können, mit einem wohlgefüllten Eisbecher im Café zu sitzen, nicht durch den Anblick von Menschen gestört wird, die durch das soziale Netz gefallen und ganz unten angekommen sind. Aber diejenigen, die diesen „Schutz“ genießen, sollten eines bedenken: Die Preise für Lebensmittel und Heizmaterial explodieren. Der Anblick eines Straßenverkäufers könnte ein Blick in die eigene Zukunft sein.